Gefahren und Nutzen von LRS-Diagnosen
Gefahren und Nutzen von LRS-Diagnosen
LRS wird als Abkürzung für „Lese-Rechtschreib-Schwäche“ oder „Lese-Rechtschreib-Störung“ verwendet. Die Begriffe sind nicht eindeutig definiert. In medizinisch-psychologischen Gutachten wird Lese-Rechtschreib-Störung meist mit einer angeborenen Legasthenie gleichgesetzt und man geht von langanhaltenderen Schwierigkeiten aus. Lese-Rechtschreib-Schwäche wird meistens für leichter ausgeprägte oder vorübergehende Probleme im Lese-Rechtschreib-Prozess verwendet und LRS dient als Oberbegriff.
Immer häufiger kommen Eltern zu mir in die Praxis, die ein Legasthenie-Gutachten erstellen ließen und Hilfe suchen oder ein pädagogisches Gutachten von mir wollen.
Da ich aus meiner 14-jährigen Tätigkeit als Legasthenietrainerin weiß, wie viele Missverständnisse Diagnosen bringen können, möchte ich hier einen kritischen Blick darauf werfen.
Natürlich wollen Eltern, deren Kind in der Schule mit schlechten Lese- oder/ und Rechtschreibleistungen auffällt, wissen, woran das liegen könnte und wie dem Kind geholfen werden kann. Dazu ist es sinnvoll, dass ein Mensch, der sich mit der Thematik gut auskennt, das Kind genauer anschaut und berät, wie unterstützt werden kann. Ganz wichtig sind aber die Rahmenbedingungen bei den Untersuchungen und vor allem, wie das Ergebnis der Familie erklärt wird.
Zuerst einige Kritikpunkte:
- Leider gehen viele Eltern, deren Tochter oder Sohn eine Lese-Rechtschreib-Störung bescheinigt bekam, davon aus, dass die Schwierigkeiten ein Leben lang bestehen bleiben. Das Kind wird fortan mit dem Blickwinkel auf diese „Störung“ gesehen und es ist viel schwieriger geworden für die Familie, an eine gesunde Entwicklung ihres Kindes zu glauben. Wie wir aus der Psychologie wissen, wirkt sich das, was wir von uns denken, ganz enorm auf unser Verhalten aus.
- Aus verschiedensten Gründen kann ein Testergebnis zustande kommen, das nicht den tatsächlichen Fähigkeiten des Kindes entspricht
- z. B. weil die Lese- und Rechtschreibleistung von legasthenen Menschen aufgrund ihrer Wahrnehmung Schwankungen unterliegt. So kann, je nachdem an welchem Punkt der Leistungskurve das Kind gerade steht, ein unterschiedliches Ergebnis zustande kommen.
- z. B. weil die Intelligenztests, die u.a. ins Legasthenie-Gutachten einfließen, genau die Sinneswahrnehmungen einbeziehen, die bei legasthenen Menschen anders arbeiten. Schlechte Ergebnisse sind hier vorprogrammiert! Und man kann sich kaum vorstellen, wie viel Leid über Familien kommt, die denken, ihr Kind sei dumm. Wie oft fuhr es mir schon in die Magengrube, wenn Eltern mir ihr Kind vorstellten und sagten, sie wüssten nicht, ob Unterstützung helfen könne, denn es sei festgestellt worden, ihr Kind habe einen unterdurchschnittlichen IQ! (Und das, obwohl legasthene Menschen meist durchschnittlich bis überdurchschnittlich begabt sind.)
- z. B. weil das Kind den Sinn des Tests nicht verstand oder den Testanleiter nicht mochte oder aufgeregt war und es daher nicht richtig mitmachen wollte oder konnte
- Oft verstreicht unglaublich viel Zeit, bis das Kind Unterstützung bekommt:
Immer wieder höre ich von Familien, dass sie viele Monate auf einen Testtermin warten mussten (und danach noch auf die Auswertung) und es verstrich wertvolle Zeit, in der keiner wusste, wie man dem Kind helfen kann. Und auch dann hatten manche zwar ein Testergebnis, aber keine Ahnung, wie sie ihr Kind fördern könnten.
- Ein großer Nachteil wäre es, wenn die Diagnose als Krankheit oder Störung interpretiert würde, die angeblich dazu führt, dass man hilflos und ausgeliefert sei.
- Die Gefahr besteht, dass die Ursachen nur noch im Kind gesehen werden! Es geht weder darum, die „Schuld“ im Elternhaus, in der Schule oder beim Schüler zu suchen, sondern darum zu schauen, wie in jedem Bereich unterstützende Bedingungen geschaffen werden können.
Was spricht für ein Gutachten:
- Manchmal wird die Diagnose Legasthenie als Erleichterung empfunden. Die Familie fühlt sich entlastet, weil niemand schuld an den Symptomen ist und weil sie endlich einen Grund wissen, warum ihr Kind sich beim Lesen oder Schreiben so schwertut.
- Ein ausführlicher Diagnosebericht kann helfen, das Kind zu verstehen und mit dem Übungsprogramm genau da anzusetzen, wo es nötig ist. Nur wenn wir wissen, womit wir es zu tun haben und wie der Förderplan aussehen sollte, werden gute Fortschritte möglich.
- Zusätzlich kann es in manchen Fällen wichtig sein, einen vorübergehenden Nachteilsausgleich bei Klassenarbeiten oder Prüfungen zu bekommen. Dazu wird oft ein Gutachten verlangt.
Wie ist mit dem Gutachten umzugehen?
- Das Testergebnis sollte dazu führen, dass Eltern, Lehrer und gegebenenfalls LRS-Trainer wissen, wo sie mit der Förderung ansetzen können, nicht aber dazu, dass das Kind stigmatisiert wird und es das Gefühl bekommt, etwas stimme nicht mit ihm.
- So ein Stigma würde die Lernmotivation und das Selbstkonzept ungünstig beeinflussen. Niemals sollte die Legasthenie jemanden definieren und dazu führen, dass er nur noch sieht, was er deshalb alles nicht kann und wo er Schwierigkeiten hat. Auf keinen Fall dürfen die Defizite in den Mittelpunkt gerückt werden. Jeder Mensch verfügt über Ressourcen und Entwicklungsmöglichkeiten!
- Seien Sie sich unbedingt bewusst, dass das Ziel nicht das Gutachten ist, sondern dass dem Kind geholfen wird. Es soll auf keinen Fall beim Gutachten bleiben, sondern dann erst setzt die Hilfe an.
- Ausgesprochen wichtig ist, dass Sie wissen, dass die Probleme nicht ein Leben lang bestehen müssen. Das Gutachten ist eine Momentaufnahme und in den allermeisten Fällen kann eine Legasthenie überwunden werden. Es wäre fatal, wenn Kind und/oder Eltern denken würden, dass Lernen in diesem Fall sowieso keine Fortschritte bringt.
- Es gibt LRS-Untersuchungen, die viele Stunden lang dauern. Hier ist es unbedingt notwendig, dass das Kind nicht das Gefühl bekommt, etwas stimme nicht mit ihm. Wenn die Person, die den Test durchführt, z.B. sagt „Wir probieren gemeinsam einiges aus, um zu sehen, wie das Lesen und Schreibenlernen für dich leichter werden kann. Bist du einverstanden?“, sind die meisten Kinder schon beruhigt. Wird dagegen nur über das Kind gesprochen oder es ist von Tests und Gutachten die Rede, worunter sich Kinder oft wenig vorstellen können, kann dies Angst auslösen.
- Bei einer Bescheinigung einer Lese-/ Rechtschreibschwäche muss auch darauf geachtet werden, dass sich der Schüler nicht darauf ausruht und aufhört, seine Lese- oder Rechtschreibleistungen zu trainieren. Je früher gezielt geübt wird, desto besser und schneller werden sich Fortschritte einstellen.
Falls Sie nicht für die Schule ein Gutachten brauchen, um z.B. einen Nachteilsausgleich zu bekommen, ist zu überlegen, ob ein ausführliches Gutachten überhaupt notwendig ist.
Natürlich muss gewährleistet sein, dass das Kind gut hört und andere Ursachen ausgeschlossen werden.
Die meisten erfahrenen Legastheniespezialisten können auch ohne standardisiertes Gutachten meist sehr rasch einschätzen, wo mit der Förderung angesetzt werden muss und auch wenn mit der Förderung schon begonnen wurde, können noch gezielt die Punkte abgetestet werden, die fragwürdig sind.
Ausführliche Hilfestellungen, wie bei jeglichen Formen von Lese-Rechtschreib-„Schwächen“ unterstützt werden kann, habe ich in meinem Buch ausgeführt: Der praktische Ratgeber bei Lese-Rechtschreib-Schwäche (ISBN: 978-3-940568-94-6)
Hier finden sich jede Menge Tipps, wie mit Freude geübt werden kann.
Blogartikel von Heike Kuhn-Bamberger, die seit 2003 als diplomierte Legasthenie- und Dyskalkulietrainerin Menschen bei der Überwindung ihrer „Lese-Rechtschreib-Schwäche“ hilft. www.lrs-radolfzell.de
Heike ist mit den Themen Legasthenie- und Dyskalkulie beim Kindergesundheit-Online-Kongress dabei, bei dem vom 10. – 25.11.2018 über 50 Experten für die ganzheitliche Kindergesundheit von der Schwangerschaft bis zur Pubertät sprechen: https://kindergesundheit.online/
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